Band 165, JUNI / JULI 2003, Seite 323, AUSSTELLUNGEN 
KUNSTFORUM INTERNATIONAL


Siglinde Kallnbach
Stadtmuseum Siegburg, 7.3. - 20.4.2003

 
von JÜRGEN KISTERS

(Foto1) SIGLINDE KALLNBACH, Wunschspur - Wishingtrack

(Foto2) SIGLINDE KALLNBACH, Wunschspur - Wishingtrack,
Ausstellungsansichten im Stadtmuseum Siegburg

(Foto3) SIGLINDE KALLNBACH, Wunschspur - Wishingtrack,
Ausstellungsansichten im Stadtmuseum Siegburg

Wie war das in der Kindheit, als man noch fest an das Wünschen glaubte? Und wie kann es gelingen, trotz unvermeidlicher gegenteiliger Erfahrungen, auch im Erwachsenenalter noch immer auf das Wünschen zu vertrauen? Dass viele Menschen tatsächlich auf dieser von Kindesbeinen an betretenen "Wunschspur" bleiben, zeigt ein gleichnamiges Kunst-Projekt, das Siglinde Kallnbach vor genau vier Jahren in Gang gebracht hat. Sie hat Menschen aller Art nach ihren Wünschen gefragt, und herausgekommen ist eine Flut beschriebener und bezeichneter Zettel, Briefe, Postkarten und Notizbücher, die von so ziemlich allem handeln, was das Leben gleichermaßen schwierig und lebenswert macht. Einige dieser insgesamt über 4000 gesammelten Wunsch-Bekundungen aus aller Welt, welche die Künstlerin zur Jahrtausendwende als 461 Meter lange Spur in einem unterirdischen Fernwärme-Versorgungstunnel auslegte, waren gerade ein wichtiger Teil in einer Ausstellung im Stadtmuseum Siegburg, wo Siglinde Kallnbach unter dem Stichwort "Wunschspur" zentrale Aspekte ihrer künstlerischen Arbeit präsentierte.
Den Schwerpunkt bildeten in den vergangenen zwanzig Jahren vor allem Performances und Aktionen, in denen Kallnbach in verschiedensten Ritualsituationen ihren eigenen Körper in die künstlerische Bresche warf, in Auseinandersetzung mit den Elementen der Erde und als Medium, in das andere Menschen ihre Phantasien und Wünsche hineinschreiben konnten. Dazu gehörte auch, dass sie auf ihren Reisen innerhalb und außerhalb Europas mit der Foto- und der Videokamera immer wieder solchen Kulturphänomenen nachspürte, die über alle kulturellen Grenzen und Systeme hinweg das Seelische und Körperliche der Menschen ganz grundsätzlich berühren; indem sie das Menschsein in ihren elementarsten Erfahrungen (be-)treffen: seiner unauflösbaren Nähe zum Material der Erde und zur Weite des Universums, der von Angst und Faszination begleiteten Dimension von Tod und Zerstörung und der unausweichlichen Verstrickung in die Möglichkeiten und Zwänge der Verwandlung.
So standen dann in der Ausstellung Fotos von Akteuren im Kölner Karneval ganz selbstverständlich neben Fotos eines Feuerlaufes der japanischen Yamabushi, eines uralten Reinigungsrituals, Fotos einer japanischen Teezeremonie (von einer knienden alten Frau in schlichter traditioneller Kleidung) neben Fotos, die Menschen (im zeitgemäßen Outfit) beim Beobachten einer Sonnenfinsternis zeigen. Es sind die winzigen, Vergleiche ermöglichenden Details, auf die es Kallnbach in ihren Fotos speziell ankommt: der demütigen Ruhe in dem einen Gesicht, dem entrückten Spaß in einem anderen, der Entschlossenheit in der einen Körperhaltung, der Zurückhaltung in einem anderen. An solch schlichten, aber grundlegenden Dingen, geprägt von Zusammenhang einer Kultur, einer Herkunft, drückt sich aus, wie (die) Menschen ihr Leben auffassen, gelassen oder gierig, in tiefer Sorge oder voller Hoffnung, demütig oder selbstgefällig-dreist.
Immer wieder ist es Japan, auf das Kallnbach ihren künstlerischen Blick richtet. Mehrfach hat sie das Land besucht, angezogen von seiner in den Augen der Westeuropäerin gleichzeitigen kulturellen Fremdheit und Vertrautheit. Hier in der Gestalt der Geishas auf dem Bahnhof in Kyoto beobachtet, dort im Erscheinungsbild der Menschen in einer Sushi-Bar im Tokyoer Stadtteil Shibuya flüchtig registriert. Im Zentrum ihres Interesses liegt ohne Zweifel der ganz gewöhnliche Alltag, seine banale Grundlage ebenso wie das, was über ihn hinausführt. Auch Kallnbach jüngstes Großprojekt "a performancelife", eine Art Fortführung ihrer ersten Wunschspur-Aktion, war zunächst in Japan angesiedelt. Während sie im Herbst letzten Jahres im Rahmen eines Stipendiums des Aomori-Zentrums für Moderne Kunst mehrere Monate dort verbrachte, bestand eine zentrale Aktivität in einer "Aktion für Gesunde und Kranke zum Thema ‚Solidarität mit Krebskranken'.
Im Mittelpunkt stand das Sammeln von Zeichnungen, Wünschen und Unterschriften von Menschen an unterschiedlichsten Orten in Japan, die zum großen Teil auf weißen Arbeitsanzügen verewigt wurden. Mit diesen Anzügen bewegte sich die Künstlerin selbst als eine lebendige und bewegte Wunschtafel zwischen den Leuten, indem sie die auf Gesundheit und Überleben bezogenen Gedanken und Vorstellungen sichtbar vor Augen führte, die in vielen Köpfe in der Regel versteckt vor sich gehen. Neben einem Dokumentationsvideo sind die Anzüge in der Siegburger Schau gleichermaßen in der Luft schwebend inszeniert, ähnlich wie das Wünschen selber eine schwebende Angelegenheit ist. Solange man wünscht, hält man das Leben in der Schwebe, sogar dann noch, wenn die Tatsachen des Lebens unumstößlich feststehen und das eigene Schicksal aufs Äußerste festgezurrt ist. Spannt sich nicht von dort ein kontinuierliches Band von der naiven Wunschgläubigkeit der Kindertage bis zum bisweilen utopischen, bisweilen verrückten Potential der Kunst, mit dem Erwachsene ihren Wünschen immer wieder auf die Sprünge helfen?
Solange man wünscht, dass die Dinge einen bestimmten Lauf nehmen sollen, glaubt man an die Offenheit und Beweglichkeit des Lebens. Und solange man wünscht, dass alles anders werden könnte, gibt es einen Entwurf des Lebens in die Zukunft. Genau das ist die grundsätzliche Botschaft in der Kunst Siglinde Kallnbachs, die in der Ausstellung zunächst disparat und fetzenhaft erscheint. Sehr viel hat sie hineingepackt in das Ausstellungsensemble und nichts darin ergibt sich auf den ersten Blick. Die Verbindungen zwischen den Bildern, Schriftstücken und Objekten wollen geduldig hergestellt werden, bevor die ausgelegte Wunschspur auf die Fährte der eigenen Wünsche führt. Und auch das berührt durchaus einen grundsätzlichen Charakter des Wünschens: dass die splitterhafte Fülle der Dinge und Erfahrungen eine einheitliche Gestalt annehmen mögen und die Komplexität und das Verlangen des Wünschens endlich ihre Erfüllung finden.
Doch stattdessen ist auch das Wünschen nicht anders als das Leben selbst. Die Menschen wünschen einmal, dass es anders wird, dann wieder, dass es so bleibt wie es ist. Das Wünschen wechselt häufig seine Richtung und seinen Inhalt, manchmal innerhalb von Sekunden. Zugleich gibt es grundlegende, alles überspannende Wünsche: Gesundheit, Frieden, Glück. Und so schlängelt sich das Wünschen in kurioser Hartnäckigkeit durch unsere Existenz wie durch Kallnbachs Kunst, indem es das eigene Handeln selbst dort (oder gerade dort) stärkt, wo es scheinbar am Ende ist und für einen Augenblick nicht weiter weiß. Siglinde Kallnbachs Kunst will dabei vor allem das Vertrauen darin stärken, dass das Wünschen immer hilft. "Es geht darum, Kräfte der Hoffnung zu mobilisieren und dem Gefühl der Ohnmacht entgegenzuwirken", sagte sie anlässlich der Performance, die sie am Ostersonntag im Rahmen der Ausstellung aufführte. Allein durch die Energie, die das Wünschen freisetzt, können Dinge bewegt werden. Es geht häufig nicht um die Inhalte des Wünschens, sondern vielmehr um die Kraft des Wünschens selbst. Denn auch wenn das Ergebnis des Wünschens verfehlt wird, so hat der Prozesse des Wünschens seine Wirkung getan. Genau das bestimmt letztlich die paradoxe Erfahrung, die das Wünschen so notwendig und gleichermaßen so zwiespältig macht. Es führt von der Realität weg, indem es zur Realität hinführen will. Und genau in diesem Punkt erscheinen das Wünschen und die Sphäre der Kunst ein und dasselbe zu sein.
Katalog: Salon Verlag, 48 Seiten,18 Euro

virtueller Rundgang in der Ausstellung (courtesy Stadtmuseum Siegburg)